medicoJOURNAL – Ausgabe Farben

Klangfarben


Der Griff nach dem Universum

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Kenn Sie so Deppen, die die Abseitsfalle im Fussball nie begreifen?

Sie erklären und erklären, ringen mit Händen, schieben Hütchen, zeichnen Linien, und noch bevor die Nacht durch ist, werden Sie zur dreiwöchigen Kur nach Davos eingewiesen. Die Nerven.

Da liegen Sie dann eingewickelt im Liegestuhl und klammern sich an ihren Kamillentee. Besuche von Freunden werden immer seltener, die Tage werden kürzer, die Wolldecken rauher und der Tee wurde auch schon mit mehr Liebe gebrüht.

In der Ferne pfeift ein Tannenhäher und sie wissen, der Winter wird kalt.





Für einmal war ich auf der anderen Seite. Der Seite der langen Gesichter und des leeren Staunens. Ich liess mir von Musikern Klangfarben erklären. Zum Glück sind Musiker geduldige Menschen. Leidenschaftliche Menschen. Verständnisvolle Menschen. Und so haben sie es geschafft, mir zu erklären, was Klangfarben sind und was Klangfarben nicht sind. Schnell erliegt man dem Versuch, Klangfarben den visuell wahrnehmbaren Farben gegenüber zu stellen.

Visuell wahrnehmbare Farben spreizen sich über ein fulminantes Spektrum, das wieder und wieder nuanciert werden kann. Rot, Scharlachrot, Rosso Corsa, Rotbraun. Auch in der visuellen Welt finden Farben ihren Weg in die Singularität, können, dort angekommen, jedoch sprachlich klar definiert, oder über ein Wertesystem wie das Pantone Matching System einem Wert zugeordnet werden.

Wollen wir Klangfarben besprechen, erweitern wir unseren Horizont als schliefen wir in der Badewanne ein und erwachten haltlos treibend irgendwo in einem der sieben Weltmeere. «Die Eigenschaften, welche man unter dem Begriff und Namen der
Klangfarbe zusammenfasst, bilden eine so bunte Menge, dass man beim Überblick schier verzweifeln muss, sie wirklich unter einen Begriff zu bringen» (Carl Stumpf 1890). Immerhin, hier, inmitten grosser, kleiner und sich überlagernder Wellen liessen sich Klangfarben sehr gut erklären. Aber wer treibt schon im Meer. Darum frage ich nach.

Meine Experten, die mich ins Reich jenseits des Absoluten und rational Gefärbten führen heissen Shuyue Zhao und Manuel Mengis. Beide studieren an der Hochschule der Künste in Bern. Sie Musik, er Malerei. Miao wie sie sich selbst nennt, ist in China geboren, hat in New York Musik studiert und beschäftigt sich jetzt in Bern vor allem mit Improvisation mit dem Saxophon und der Klarinette. Manuel ist Walliser, die Malerei ist sein Zweitstudium.

Seine erste Leidenschaft ist die Musik, spielt er doch schon seit Jahren in diversen Jazz Ensembles Trompete und widmet sich aktuell dem Projekt «Le Pot». Beide lieben die Improvisation, das Suchen von Klängen, wo sie kaum einer vermutet, wo vielleicht noch keiner hingehört hat.

Wie die ersten Nordpolexpeditionen loten sie sich ins Nichts weil sie fühlen, dass da etwas ist, etwas sein muss. Wo andere nur das ewige Weiss sehen und Kälte fühlen, leuchten sie sich mit den Farben ihrer Klänge den Weg ins Unbekannte.


Was Klangfarben sind
Was Klangfarben sindWas wir allgemein unter einem Ton verstehen, ist tatsächlich einAkkord diverser Teiltöne. Dominiert wird dieser Ton von einemGrundton. Begleitet wird dieser Ton von diversen Obertönen. Diese Obertöne, die den Grundton ergänzen, nennt man Klangfarbe oder Timbre. Ein Ton ohne Obertöne ist somit farblos.

Einfarbloser Ton besteht einzig aus einer Sinuskurve. Eine reine Sinuskurve kommt in der Nautur nicht vor, kann aber synthetischgeneriert werden. Durch einen Synthesizer oder eine Stimmgabelzum Beispiel. Die für die Klangfarbe verantwortlichen Obertönelassen sich in der Obertonreihe definieren.

Die Obertonreihe isteine natürliche Tonleiter. Sie ist das älteste Tonsystem der Welt, das zusammen mit den ersten Gasen im Universum entstand. Sie ist die Grundlage aller Musiksysteme und somit auch derKlangfarben. Ein Tonakkord, also ein Ton mit Farbe, ist dieSumme aus Sinuskurve und den mitschwingenden Obertönen.Die Summe dieser Wellen macht den charateristischen Toneiner Stimme oder eines Instrumentes.

Die Klangfarbe ist dafürverantwortlich, dass wir erkennen können, ob zum Beispiel einC von einer Geige oder einem Klavier gespielt wird. Gleichesgilt für die menschliche Stimme. Würden wir ohne Klangfarbesprechen, wüssten wir ohne visuelle Referenz nicht, wer mit unsspricht. Ohne die Klangfarbe hätten alle dieselbe Stimme. Eine sehr absurde Vorstellung. John Lennon tönt wie meinNachbar, Bob Dylan wie ich und ich wie alle sonst. Wir müsstenwohl Nummern haben statt Namen, wie sonst wüsste ich, mitwem ich telefonierte, oder welchen Hans ich durch Zurufen ineiner Bar auf mich aufmerksam machen will.

Die erweitertenInformationen, die auschliesslich durch die Klangfarbe definiertwerden, gingen komplett verloren. Alter, Geschlecht, physischesund psychisches Befinden, alles weg.
Was Klangfarben können
Klangfarben sind also potente Informationsträger, die dem Empfänger facettenreiche Informationen über den Absender und dieTonquelle übermitteln. Interessant dabei ist auch die Übertragungsart. Was der Farbe die Leinwand, ist dem Klang die Luft. Schallwellen sind schliesslich nichts anderes als Druckveränderungen der Luft, die in unser Ohr eindringen und durch eineSynchronisation des Trommelfells mit der Schwingungsfrequenzdes Absenders und die dem Empfänger erlauben, die übermittelten Informationen zu dekodieren.

Für meine Experten, Miaound Manuel, sind Klangfarben das liebste Gestaltungsmittel. Siekennen die Gestaltungsmöglichkeiten, die eine Klangfarbpalettebietet aus ihrem Leben mit der Musik. Es ist entscheidend, wieman etwas sagt. Ein und dasselbe Wort kann je nach Färbungseinen Inhalt ändern. Erst durch die Färbung wissen wir, ob derAbsender des Satzes diesen ernst meint, zynisch, herablassendoder ihn mit einer anderweitigen subtilen Botschaft anreichertoder nicht. Erst die Klangfarbe liefert uns die dafür notwendigen Informationen.

So ist es Musik entscheidend, wie man eineNote spielt. Für Miao ist die Klangfarbe so wichtig, dass sie sichaufgrund der Klangfarbe für ein bestimmtes Instrument entschieden hat. Und Manuel kann sich zum Beispiel nicht vorstellen, in einem professionellen Orchester Wagner zu spielen, weiler diese Art der Tonfärbung nicht spielen kann. Ihn interessiertdas persönliche Farbenmischen viel mehr. Wie er die Farben mischt, ist von vielen Faktoren abhängig.

So prägt der Raum das Gespielte entscheidend mit – und das schon vor dem Konzert. Spielt er mit «Le Pot» zum Beispiel in einer Kirche, wird das Konzert komplett anders als in einem kleinen, studioähnlichen Raum. Der Raum greift also mit in den Klangfarbkasten und ist Teil der Konversation zwischen Publikum, Musik und Künstler. Im Allgemeinen wird die Klangfarbe durch mehrere Einflüsse bestimmt. Hauptsächlich sind dies Besetzung, Instrumentation und Interpretation, respektive die Spieltechnik. Kein Wunder also, dass Manuel den MP3 Dateien und Streamingdiensten nicht so viel abgewinnen kann, gehen doch durch die Kompression viele der Zusatzinformationen verloren. Der klassische Jazz Swingrhythmus auf dem Ride-Becken ist kaum mehr differenziert wahrnehmbar.



Klangfarben und Musik
Je mehr ich über Klangfarben und deren Kraft erfahre, desto erstaunlicher scheint mir der geringe Informationsgehalt eines Notenblattes, definiert eine Note doch lediglich die Grudnfrequenz. Ältere Notenblätter waren nicht mal mit Angaben wie forte, piano und ähnlichen Anweisungen versehen. Wie also die Werke der grossen Meister wie Beethoven oder Bach wirklich gespielt werden sollen, kann niemand mit Bestimmtheit sagen. Es fehlen uns schlichtweg die Angaben zur Klangfarbe. Mit ein Grund für Miao, hauptsächlich zeitgenössische Komponisten zu interpretieren. Mit ihnen könne sie sich noch austauschen, diskutieren, wie gewisse Noten gefärbt werden sollen. Überhaupt hat die Zeit und die mit ihr fortschreitende Entwicklung einen entscheidenden Einfluss auf die Klangfarbe. Das erfährt Manuel immer wieder. Seine Trompete ist 60 Jahre alt; damals wurden Trompeten noch aus anderen Legierungen hergestellt und somit tiefer gestimmt. Auch waren sie kleiner und leiser als moderne Trompeten. So kann es vorkommen, dass Manuels Trompete nicht mehr in jedes moderne Arrangement passt. Folgende Kompositionen zeigen meiner Meinung nach gut, was Klangfarben sind und anrichten können. Der «C Jam Blues» von Duke Ellington. Zwei Töne, fünf Noten, die immer und immer wiederholt werden, allerdings von verschiedenen Instrumenten des Ensembles. Anders veranschaulicht «Farben» des österreichischen Komponisten Arnold Schönberg aus dem Werk «Fünf Orchesterstücke» die Kraft der Klangfarben. Zeigt der C Jam Blues eher technisch den Effekt der Klangfarben, löst Schönebergs Stück tatsächlich eine Bildenstehung im inneren Auge aus. Ein faszinierendes Werk gelang Krzystof Penderecki mit «Threnos (Threnodie) – Den Opfern von Hiroshima». Würden wir mit der Malerei vergleichen, könnten wir diese Komposition wohl am ehesten dem Surrealismus zuordnen – die 52 Streicher zeichnen mit unerhörten Klangfarben ein geradezu verstörend plastisches Bild, das nahezu greifbar vor unseren Augen gebirt.

Klangfarbe und Wahrnehmung
Den konkretesten Zugang zu Klangfarben ermöglicht wohl die Synästhesie. Ohne es zu wollen oder steuern zu können, löst ein Sinnesreiz bei Synästhetikern unwillkürlich Eindrücke über verschiedene Sinne gleichzeitig aus. Verantwortlich dafür ist der emotional bewertete Teil des Gehirns, das lymbische System. Diese Neuinterpretation sinnlicher Informationsverarbeitung ermöglicht Synästhetikern Gerüche zu fühlen und Töne durch Photismen wie Formen, Farben und Lichtblitze zu erleben. Berühmte Synästhetiker waren unter anderem Vladimir Nabokov, Virgina Wolff, Arthur Rimbaud. Vom deutschen Komponisten Joachim Raff ist der Satz übermittelt «Eine Trompete klingt scharlachrot». Rimbaud widmete der Synästhesie mit «Voyelles» ein eigenes Gedicht, das gleich zu Beginn einzelne Vokale definiert A schwarz, E weiß, I rot, Ü grün, O blau (...).

Exkurs
Klangfarben machen die Musik zur Sprache, die alle Menschen verbindet. Kulturelle Prägung, Alter, Geschlecht, alle werden wir durch die Musik vereint. Wir alle verstehen nicht, warum Beethovens 5., Stairway to Heaven von Led Zeppelin oder unzählige andere Meisterwerke uns berühren, rühren, umhauen oder kalt lassen. Aber es gibt Werke, die verbinden uns ohne Worte und machen uns sprachlos. Weil sie uns dort treffen, wo wir alle gleich sind – bei den Emotionen. Wir alle lieben, leiden, lachen, trauern, verzweifeln ob der Grösse des Universums und finden Frieden in einer Umarmung. Verdammt dazu, nie perfekt zu sein, aber gesegnet mit all den Spielformen des Abenteuers der Suche. Musiker, Sänger, Schauspieler, Maler und jeder auf dieser Welt mit seinen Träumen liebt, leidet, verzweifelt und jubelt auf der Suche nach diesem Fabelwesen und wir wissen insgeheim, wir werden es nicht finden. Wir sind nicht ideal. Wir wissen nicht, wie die Singularität aussieht, wie der Urknall zustande kam. Aber das Universum, das daraus entstand bespielen wir mit allem, was wir haben. Töne, Farben, und Formen sind unsere Bausteine. Wir sind Menschen und somit nicht digital, nicht binär und wir können keinen Idealton. Aber wir sind auch nicht kopierbar. Jeder ist einmalig und somit seine Farben mit denen wir das grosse Grau zwischen schwarz und weiss, ja und nein verdammt gut ausmalen können.