Reportage medicoJOURNAL – Ausgabe Universum

Der äussere Monolog


Astronomie und Weltraumfiktion mit
Prof. Dr. Philipp Theisohn.



Alles begann mit einem Fehler. 1877 zog der Mars besonders nahe an der Erde vorbei, sodass sich der italienische Ingenieur Giovanni Schiaparelli entschied, eines seiner Teleskope zu testen, indem er es auf den Mars richtete. Dort sah er nebst Landmassen auch viele Senken, die er, wie im Italienischen üblich, als «canali» protokollierte. So weit, so «science». Die Fiction steuert die Übersetzung bei, die «canali» in «canal», also «Kanäle» übersetzt und somit impliziert, dass diese technischen und nicht natürlichen Ursprungs sind.



Eine Interpretation, die wohl durch den Bau des Panamakanals beflügelt wird, der just in diesen Jahren die Menschheit fasziniert. Die vermeintlichen Mars-Kanäle als Nachweis für intelligentes Leben auf dem Mars bündelten den Fokus der Welt auf den roten Planeten und beflügelte die Phantasie vieler Erdlinge. Bevor irgendwo ein Countdown zu hören war, zündete eine Literaturkultur auf dem Mutterschiff Erde, die sich nicht mehr bändigen lassen sollte – weit vor den ersten «small step for man» streckte der Mensch seinen Geist ins All, hangelte sich von Monden über Phantasien zu Planeten und inszenierte sich ein Bühnenbild in den leeren Raum.

Faszination? Neugierde? Einsamkeit? Das erste Raumschiff der Menschheit heisst Fiktion, die Reise dieses Schiffs untersucht Prof. Dr. Philipp Theisohn. Als Professor für Neuere Deutsche Literaturwissenschaft am Deutschen Seminar der Universität Zürich forscht er zum Thema «Literarische Darstellung des Weltraums von der Antike bis zu Gegenwart», hat die Ausstellung «Mars» im Strauhof kuratiert und zeichnet als Mitherausgeber von «Des Sirius goldene Küsten – Astronomie und Weltraumfiktion» verantwortlich.


«Literatur und Universum, wie kommts?», will ich vom Prof. wissen. «Nun, seit der Antike versucht der Mensch, das Universum zu begreifen, fassbar zu machen. Die Literatur ist eine, und meiner Meinung nach die beste Möglichkeit, dies zu tun. Denken Sie an Kepler, den legendären Mathematiker. Sie leben im 16. Jahrhundert und wollen der Welt beweisen, dass sich die Welt um die Sonne dreht. Zeigen können Sie das nicht. Sie brauchen eine Aussenperspektive. Erst die Aussenperspektive macht unseren Zustand sichtbar. Diesen Zustand so zu beschreiben, dass das Abstrakte fassbar wird, das kann Literatur.» Die Aussensicht also. Ist das Selfie die Subsumierung unserer Spezies?Jeder macht eins, hat eins gemacht, je fremder sie einem sind, desto älter ist man, also je natürlicher sie einem kommen, desto jünger, zukünftiger ist man. Sie fluten die Welt dank dem Ding der Unmöglichkeiten, dem Endgerät der Zukunft, dem Smartphone. Neues tut der Mensch dabei nicht, wer es sich leisten konnte vor dem Smartphone und vor der Zeitversiegelungsmaschine Fotoapparat der liess sich malen, liess sich in Stein meisseln und erhielt so sein, meist vorteilhaftes Abbild.

Also auch hier nichts Neues, Facetune hatten auch die Pinselmeister schon drauf. Immer war es gefragt, das Abbild seiner Selbst, als Beweis der Existenz und dem Wunsch, die Zeit nicht entkommen zu lassen, sie festzuhalten und im verrunzelten Alter auf die Erinnerung an die Jugend schauen zu können. Ich weiss, was ich tue, was ich sage, was ich trage und manchmal sogar, was ich will, aber ich sehe mich nicht. Dafür brauche ich eine Rückmeldung und die bekomme ich über die Kommunikation mit dem Aussen. Zuerst von meinen Eltern, dann meinen Freunden, meinem Partner, dem Schiedsrichter, dem Finanzamt und der Community, also meiner Spezies. Die Aussensicht hilft mir, meine Existenz zu begreifen. Um diese Aussensicht zu bekommen, muss ich eine Nachricht absenden, auf die reagiert werden kann. Die Kommunikation mit dem Aussen löst eine Reaktion aus, die mein Ich mitdefiniert und mir ganz nebenbei noch die vermeintlich furchtbare Vorstellung nimmt, allein zu sein.


Das Selfie sagt, ich bin hier, ich war hier, es gibt mich und hat mich gegeben. Und doch – würde eine entfernte Spezies in einer entfernten Zeit diese Dokumente der Realität finden – sie müsste spekulieren, eine Fiktion entwerfen, die wiederum gefärbt wäre von ihrer Kultur, ihrem Wissen, ihrem Spektrum der Sinneswahrnehmung. Bei all der Fiktion, Forschung und Versuche ist mir die eine Variante der Geschichtsschreibung zwischen Mensch, Universum und möglichen Kontakten nicht in den Sinn gekommen. Aber jetzt, da sie Prof. Dr. Theisohn formuliert hat, ist sie die Eindrücklichste. «Auch wenn wir Kontakt herstellen würden und uns eine andere Spezies besuchen würde, wer sagt denn, dass wir, die Menschen überhaupt interessant für die Aliens wären? Vielleicht wären für sie die Elefanten viel interessanter.»

Bis dato ist alles, was die Sonden im All gefunden haben, nichts. Steine, Geröll, kalte Orte, heisse Orte. Aber wir sind und bleiben «last man in space». Ohne Freunde, Feinde, ohne Reiz und Reflexion von aussen, die uns in der kosmischen Geschichte verortet, und so machen wir weiter Selfies, suchen und sind «lost in space». Vielleicht schaffen wir es mal auf den Mars, wenn wir so weitermachen mit der Erde müssen wir wohl, nur können wir dann nicht Matthew McConaughey losschicken, der uns zur Musik von Hans Zimmer und motiviert durch das Gedicht «Do not go gentle into that night» von Dylan Thomas über die vierte Dimension ein neues Zuhause schenkt. «Würde man», so Theisohn, «den Mars besiedeln wollen, so bräuchte man zirka 400 Jahre, nur um für ein paar Menschen den Sauerstoff aufzubauen, den es zum Leben braucht.» Bis dahin besiedeln wir das Universum mit Literatur, genährt durch Fantasie, Fakten und Träume. Und bis wir was gefunden haben, schaffen wir uns die Freunde, die wir nicht haben. Schreiben Geschichten, die wir am Lagerfeuer Erde erzählen, am einzigen Ort bis anhin, wo es warm ist und wir nicht allein sind. Rundherum ist Nacht, in der alles sein kann. Hungrige Wölfe oder Töpfe voller Gold.

Bei all der Technik trägt uns die Literatur am weitesten weg, wärmt uns mit einer Wärme die anders ist, tiefer dringt, so wie die Wärme des Feuers tiefer dringt als jede andere. Inzwischen fliegt Golden Record weiter, tiefer ins All und trägt in sich ein immer älter werdendes Bild von uns, während wir weiter am Lagerfeuer sitzen.



Sie trägt ein Bild von uns, dass das wichtigste vergessen hat, das der Mensch zu bieten hat: Forschung und Bildung nämlich, ohne die Voyager nicht möglich wäre, ohne die Golden Record nicht möglich wäre, ohne die dieses Heft, der Druck, das Layoutprogramm, die Uni Zürich und der Wasserkocher nicht möglich wären. Und mit dem Wichtigsten hat sie das vergessen, was das Wichtigste möglich gemacht hat: das Buch und die Literatur. Voyager ist losgezogen mit nur genau einer Abbildung einer Buchseite. Falls uns irgendjemand findet, sind wir eine Zivilisation ohne Bücher. Wir lesen und schreiben nicht. Dabei schreiben wir die ganze Zeit ins Weltall. Wie verrückt. Aber niemand schreibt zurück. Und so sitzen wir weiter am Feuer und führen einen äusseren Monolog mit dem Universum.

Philipp Theisohn ist Professor für deutsche Literatur an der Universität Zürich und leitet das Forschungsprojekt «Conditio extraterrestris. Das bewohnte Weltall als literarischer Imaginations- und Kommunikationsraum 1600–2000».

Hörtipp: Mix von Prof. Dr. Philipp Theisohn und Bit-Tuner auf Soundcloud.

Fotos: Stephan Huwyler



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